Sprich mit mir

Sprich mit mir 1920 1080
Lidia Ravera Sprich mit mir

Jetzt ist es also passiert, fast hinter meinem Rücken. Ich bin Rentnerin.  Ein Wort, das ich so gar nicht mit mir in Verbindung bringen will – aber wer will das schon? 

Eigentlich sollte ich jetzt Zeit haben. Und Freiheit. Als Trostpflaster für die Erkenntnis, in der vor(?) letzten Lebensphase angekommen zu sein. Aber nichts. Weder Zeit, noch Freiheit, noch Erkenntnis. Also mach ich erstmal weiter und versuche mein Leben wieder einmal neu zu ordnen.

In dieser Phase des Umbruchs treffe ich auf eine alte Bekannte, die italienische Autorin Lidia Ravera. Vor über 40 Jahren habe ich in Berlin und Italien ihr Buch ‚Schweine mit Flügeln‘, ein fiktives Tagebuch über die damals brennenden Themen Sex und Revolution, verschlungen. Vor zwanzig Jahren habe ich versucht, ihr Buch ‚Der Lack ist ab‘ aus dem Italienischen zu übersetzen und bin krachend / lachend gescheitert. Seitdem kenne ich den tiefen Graben zwischen irgendwie verstehen und sicher übersetzen. 

Worüber schreibt Lidia Ravera heute? Ihr neuer Roman ‚Sprich mit mir‘ handelt von einer zurückgezogen lebenden älteren Frau, einer Rentnerin. Sie lebt in Rom, eine Wohnung mit Blick auf den Tiber, Spaziergänge, Musik, Filme auf DVD und Literatur. Keine Menschen – ein perfektes Gleichgewicht wunschlosen Unglücks. 

Dieses hart erarbeitete Gleichgewicht wird durch den Einzug einer jungen, quirligen und etwas bohemehaften Familie erschüttert. 

Die Protagonistin Giovanna, die anfangs die Familie nur beobachtet, belauscht, wird durch Malvina, deren 3jährige Tochter endgültig aus ihrer kontemplativen Haltung in die Welt der Gefühle, Gefahren und Verletzungen zurückkatapultiert. 

Noch versucht sie, ihre Distanz zu wahren, zu reflektieren. Ihr Urteil über Eltern lautet: ‚Eltern sind vorhersehbar und Verlierer. Hinken immer einer Aufgabe hinterher, die die Fähigkeiten jedes Menschen übersteigt: ein anderes Menschenwesen großzuziehen. Es lehren zu leben, Gut und Böse zu unterscheiden, nicht in Trübsinn zu ertrinken, den eigenen Tagen einen Sinn zu geben.’

Unübersehbar, dass Giovanna keine Kinder hat. Ihre Erklärung ist mir vertraut: ‚Ich habe immer die Ränder bewohnt.‘ Wie sehr das zutrifft, kommt erst langsam, stückweise zur Sprache. Und so nimmt sie das Angebot (die Bitte?) der Eltern an, als Babysitter für Malvina einzuspringen, statt zu sagen ‚Ihr schmeichelt mir, aber eine solche Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Ich bin eine alte Frau und an Einsamkeit gewöhnt. Ich trinke viel. Ich habe neun Jahre im Gefängnis gesessen.´

Denn Giovanna ist eine Ex-Terroristin.  Nach Jahren im Untergrund und Jahren im Gefängnis, dass sie innerlich das „Kloster“ nennt, ist der Wunsch unsichtbar und unangreifbar zu sein, zu ihrer zweiten Natur geworden. 

Doch sie geniesst die Zeit mit Malvina und wird jeden Tag mehr zu einem unverzichtbaren Teil der Familie, die auch den charismatischen Großvater in ihr Leben bringt. Er bemüht sich um sie, oder doch nur darum, sie zu enträtseln, ihre Schale zu knacken? 

Giovanna wird wieder zu einem Menschen, einer Frau  – trotz ihrer Abwehr und ihrer Klugheit lässt sie sich (be)rühren und stellt sich ihrer Vergangenheit. Oder wird sie gestellt?

Ich habe das Buch nach anfänglichem Zögern mit grosser Anteilnahme gelesen. Es erzählt in vielen Facetten die Geschichte einer Frau meiner Generation, die radikale Entscheidungen getroffen hat. Und behandelt nebenbei noch Fragen, die alle Frauen meiner Generation umgetrieben haben und umtreiben. Mutterschaft, abhängige Beziehungen, Alter. 

Falsche Entscheidungen, wer hat sie im Laufe seines Lebens nicht getroffen? Selten werden sie so radikal gewesen sein wie bei Giovanna, aber ihr Satz, „die Revolution wird nicht mit Gesängen gemacht, sondern mit Waffen“ hat mich berührt. Trotzdem bin ich froh, dass ich nur gesungen habe.

Lidia Ravera
Sprich mit mir
Rowohlt Verlag
366 Seiten
24 Euro
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