Wieder einmal hat mir mein kluger Kollege Andreas ein Buch ans Herz gelegt: Claire Keegan, Kleine Dinge wie diese – und da es dünn ist und zudem einfach wunderbar aussieht, habe ich mich gern daran gemacht, es zu lesen.
Ein dünnes Buch? Ja, aber Claire Keegan braucht genau zwanzig Seiten, uns den Kohlenhändler Furlong vorzustellen, seine Frau, seine Kinder sein gutes Herz, das stille Glück der Familie trotz der besorgniserregenden ökonomische Lage, in der sich Irland befindet.
Wie unvorstellbar gut Claire Keegan schreibt, wird mir erst beim zweiten Lesen bewusst. Dieses Buch ist ein Wunder. Bei der feierlichen Eröffnung der Weihnachtsbeleuchtung des Ortes kommt der Bürgermeister in seinem Mercedes vorgefahren, sorgen die Nonnen für Ordnung unter den Chormitgliedern und unterhalten sich mit einigen der wohlhabenderen Eltern. Die jüngste Tochter von Furlong hat im Gegensatz zu anderen Kindern Angst vor Santa und klammert sich an die Hand des Vaters, der sie tröstet. ‚Du brauchst nicht hinzugehen, wenn Du nicht willst, Kind‘ sagte Furlong zu ihr, aber es schmerzte ihn trotzdem, eine der Seinen so verstört zu sehen…und er fragte sich, ob sie mutig genug, ob sie dem, was die Welt für sie bereithielt, gewachsen sein würde.
Furlong selbst hat es geschafft, trotz seiner Geburt als uneheliches Kind einer 16jährigen Mutter. Seine Mutter war damals bei einer wohlhabenden Protestantin im Dienst war und trotz ihrer Schwangerschaft die Stelle behalten durfte. Dank der Unterstützung dieser freigeistigen Frau und seiner guten Erziehung hat er seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Er ist dankbar für seine lebenspraktische Ehefrau und die fünf wohlgeratenen Töchter, aber etwas in ihm, dem er nicht nachgehen will, macht sich manchmal Gedanken.
‚Es ist immer dasselbe, dachte Furlong, immer gingen sie mechanisch und ohne Pause zur nächsten anstehenden Aufgabe über. Wie ihr Leben wohl aussehen würde, fragte er sich, wenn man ihnen Zeit zum nachdenken gäbe? Würde ihr Leben anders oder doch ganz ähnlich verlaufen – oder würden sie die Kontrolle verlieren?’
Furlongs ruhiges Leben gerät aus der Bahn, als er bei einer Lieferung im Kohlenschuppen des Klosters ein Mädchen findet, halb verhungert und erfroren, die schon länger als einen Tag dort eingeschlossen sein musste.
Er bringt sie zurück ins Kloster und wird freundlich empfangen, trotzdem spürt er, dass eine Scheinwelt für ihn inszeniert wird. Nachdem er das Kloster verlassen hat, wird ihm klar, dass er weder gesehen hat, wie das Mädchen das versprochen Frühstück verzehrt hat, noch hat er sich getraut, nach dem Baby des Mädchens zu fragen, wie es dessen verzweifelter Wunsch war.
Über das Kloster und die angeschlossene Wäscherei zirkulieren im Ort die verschiedensten Gerüchte, doch Furlong hatte sie nie gross beachtet. Und ein Teil von ihm möchte auch jetzt noch sein gewohntes Leben fortführen – zu undurchdringlich scheint der Einfluss des Klosters, er reicht mitten in die Gesellschaft hinein und will er nicht seine klugen Mädchen zu den Nonnen in die einzige Oberschule für Mädchen geben? Er wird gewarnt.
‚Furlong wusste, dass es das einfachste auf der Welt war, alles zu verlieren.‘ Steht schon auf den ersten Seiten.
Auch dass bei seiner Geburt manche sagten, der Junge werde sich noch als Narr erweisen.
Trotzdem endet das Buch hoffnungsvoll. Denn ‚in seinem närrischen Herzen hat Furlong nicht nur die Hoffnung, nein, den berechtigten Glauben, dass sie es schaffen würden‘.
Das Buch spielt 1985 – trotzdem sind die Bilder in meinem Kopf aus den 50er Jahren. Nur weil die Autorin als Weihnachtswünsche der Mädchen eine Levis 501 Jeans und ein Album der Gruppe Queen hineintupft, muss ich (ein)sehen, dass es eine Geschichte aus meiner Jugend ist. Die grausame Wirklichkeit der Magdalenen-Wäschereien dauerte bis 1996.